Was ist Armut?
Unsere Antwort auf diese Frage bestimmt unsere Lösungen. Wenn wir Armut nicht nur als finanzielle, wirtschaftliche und materielle Mängel definieren, sondern vielmehr noch als einen Komplex, der vor allem aus sozialen und emotionalen Nöten besteht, die hervorgerufen werden durch gestörte Beziehungen - zu sich selbst, zum Nächsten, zur Umwelt und zu Gott - dann sind wir alle arm. Ökonomisch Arme erleben darüber hinaus Gefühle von Scham, Minderwertigkeit und Ausweglosigkeit, die sie der Fähigkeit berauben, aktiv ihre Lebensumstände zu verändern. Bei ökonomisch Reichen zeigt sich diese Armut oft in Form von Überlegenheitsgefühlen und gestörten Gesellschaftsparadigmen, die Materialismus und Kompensationsversuche erzeugen (z. B. Arbeitssucht, Essstörungen und Gier, die moderne Sklaverei erzwingt …).
Es ist daher für beide Seiten wichtig, die eigene Armut einzusehen, um in dem Prozess ihrer Bekämpfung weder zu verletzen noch verletzt zu werden. Ein Ansatz, bei dem die ökonomisch Reichen die Defizite einer ökonomisch armen Gesellschaft ausgleichen wollen, kommuniziert die fatale Botschaft, dass nur erstere hierzu in der Lage sind. Diese Haltung lässt beide Seiten noch mehr verarmen: die Empfangenden werden darin gelähmt, ihre Lebensumstände zu ändern, während sich die Gebenden weiter in der falschen Annahme wähnen, über alle Lösungen zu verfügen. In diesem Konzept bleiben darüber hinaus kulturelle Unterschiede unberücksichtigt und die wahre Anerkennung der Ebenbürtigkeit wird verneint; beide Seiten bleiben in ihren eingeschränkten Weltbildern gefangen.
Im Gegensatz dazu steht der Ansatz, ökonomisch arme Menschen dabei zu begleiten, auf vorhandene Kapazitäten aufzubauen, um ihre Interessen umzusetzen, die sich nicht unbedingt mit den Vorstellungen ökonomisch Reicher decken müssen. Dies lässt alle Beteiligten eine nachhaltig verändernde Entwicklung erleben. Die ökonomisch armen Menschen sind dabei die Verantwortlichen sowohl für das Konzept, als auch die Durchführung und Evaluierung des jeweiligen Projekts. So geraten sie nicht in die Empfängerrolle, sondern setzen ihr Wissen und ihre Selbsthilfefähigkeit ein, um Veränderungen zu bewirken. Die Rolle des begleitenden Partners in diesem hoch partizipatorischen Ansatz ist die eines Katalysators und Vernetzers.
Der Kampf gegen Armut beginnt in den Herzen und Köpfen aller Beteiligten. Medizinische Hilfe, Ausbildung und wirtschaftliche Chancen gehen Hand in Hand mit der Heilung gestörter Beziehungen und der Entdeckung der eigenen Würde und Potentiale.